Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch

24 Mai 2023・story
Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch

Etwas vom Schönsten, was ein Bike bietet, ist Freiheit. Zu fahren, wohin Du willst. Deine körperlichen und geistigen Grenzen zu erweitern. Die Serie «Going the distance» soll Dir als Leitfaden und als künftige Inspiration dienen. Sie basiert auf unseren eigenen Erfahrungen mit Bikepacking, Randonnéees und Ultradistanzrennen. Ralph hat ein 300 Kilometer langes Brevet absolviert und berichtet hier darüber.


In diesem Jahr ist wieder Paris-Brest-Paris (PBP), die Mutter aller Ultracycling-Abenteuer. Wer teilnehmen will, musste bereits im vergangenen Jahr Brevets absolviert haben, um in den Genuss einer Voranmeldung zu kommen. Der Ansturm auf die Plätze ist riesig. Und nun läuft die Qualifikation. Die ersten ‒ meist «kürzeren»  Brevets ‒ sind absolviert. 

Da ich in diesem Jahr aus zeitlichen Gründen nicht in Paris an den Start gehen kann, fahre ich die Brevets zu meinem Vergnügen. Gleichzeitig möchte ich verschiedene Dinge ausprobieren. So war das 400-Kilometer-Brevet Anfang Jahr ein richtiger Härtetest mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Das 200er-Brevet um den Bodensee habe ich mit einer Fahrerin unter die Räder genommen, die noch kaum Routine auf der Ultradistanz hat. Da waren mehr meine Coaching-Skills gefragt.

Pace

Und für Ende April habe ich mich in Freiburg im Breisgau für das 300-Kilometer-Brevet angemeldet. Ich wollte einmal einen Vergleich zu den Brevets von AUDAX SUISSE haben und neue Routen kennenlernen. Als ich eine Woche vor dem Start die Strecke sah, war aber sofort klar, dass ich fast die gesamte Route bereits kenne. Also habe ich den Fokus auf mein zweites Ziel gelegt: Unter 15 Stunden bleiben. Das entspricht einem Schnitt von 20 Kilometer pro Stunde, wobei die Pausen auch auf die Pace einzahlen. 

Das Brevet hielt fast 4000 Höhenmeter bereit. Darunter die Münsterhalde im Schwarzwald und der Chilchzimmersattel im Oberbaselbiet. Damit war klar, dass die Durchschnitts-Pace nicht allzu hoch sein würde. Die Taktik war deshalb relativ einfach: Die Pausen kurz halten und am besten verschiedene Dinge parallel erledigen. Was das konkret bedeutet, folgt später.

Brevetkarte

Zum Brevet selber: Es gab die Option, mit einem Tracker die Fahrt aufzuzeichnen oder nach alter Sitte mit einer Brevetkarte zu arbeiten. Die Zeiten an den Checkpoints sind dann selbständig einzutragen und vor Ort in einem Geschäft ein Stempel abzuholen. Beim Tracker war ich skeptisch, weil er den Stromverbrauch des Smartphones erhöht. Deshalb setzte ich auf die Brevetkarte. Organisator Walter hatte aber nicht an jedem Checkpoint eine*n «Stempler*in». Die Vorgabe war dort, ein Selfie vor dem Ortsbild zu schiessen.

Nach dem Start in Freiburg im Breisgau ging es gemächlich durch die Stadt und anschliessend sanft ansteigend den Schwarzwald-Ausläufern entlang. Rasch hatte ich vier oder fünf Radler*innen im Schlepptau. Niemand wollte führen, sondern alle von meinem Windschatten profitieren. Darüber hätte ich mich aufregen können, die Situation war mir aber bereits von PBP bekannt. Ich vermutete auch schon, wie das weitergehen würde. Und so kam es auch: Ins Münstertal hinein, als die Route leicht anstieg, wurde ich vom Trupp überholt und abgehängt. Auch etwas, das mich mittlerweile relativ kaltlässt. Wichtig ist, dem eigenen Plan möglichst lange treu zu bleiben.

Pause

Auch die nächste Vermutung bestätigte sich rasch: Ich hatte die Route gut studiert und kannte die meisten Abschnitte. Deshalb wusste ich, dass die Münsterhalde anspruchsvoll ist. Ob das die überholende Gruppe auch wusste? Jedenfalls sah ich bis auf einen alle wieder im Anstieg … Oben angekommen fuhr ich gleich weiter Richtung Kleines Wiesental und Schopfheim. In der Abfahrt dann musste ich eine kurze Pause einlegen: Eine Kontaktlinse war rausgesprungen und in der Sonnenbrille hängen geblieben. Eigentlich eine gute Gelegenheit, um kurz auszuruhen. Das stand aber nicht auf dem Plan. 

In Schopfheim wäre eine Esspause vorgesehen gewesen. Da ich aber kein Bedürfnis verspürte, liess ich es bleiben. Vom Plan abweichen, ist also auch möglich, Erfahrung hilft, sich richtig zu entscheiden. Was in Schopfheim aber ausser Plan passierte, war die Bahnschranke, die sich vor mir senkte. Anstatt einfach rumzustehen und zu warten, nutzte ich die Zwangspause, um Sonnenschutz aufzutragen. Mittlerweile hatten sich die Wolken verzogen und die Sonne schien kräftig.

Checkpoint

Über Wiechs ging es weiter nach Schwörstadt und Bad Säckingen, dem ersten Checkpoint. Gleich bei der Holzbrücke erhielt ich in einem kleinen Laden meinen Stempel und konnte rasch weiterrollen. Wegen der vielen Fussgänger*innen musste ich aber langsam machen. Die Route führte weiter durch den Aargau ins Baselbiet nach Eptingen zum nächsten langen Anstieg. Auch dieser ist mir bestens bekannt, sodass ich ihn gemütlich anging. Im Gasthof Oberbölchen gab es eine Portion Spaghetti, eine Cola und einen Stempel sowie Pflege für das Hinterteil. Ich hatte mir vorgenommen, alle 100 Kilometer Chamois-Creme neu aufzutragen. Dieser Plan ging perfekt auf.

Vom Chilchzimmersattel führte die Strecke über Langenbruck runter nach Balsthal und anschliessend durchs Dünnerntal bis nach Gänsbrunnen. Womit ich nicht gerechnet hatte, war der permanente Gegenwind auf diesen rund 27 Kilometern. Bereits bergab musste ich in die Pedale treten. Dazu kam der starke Autoverkehr auf diesem Abschnitt. Das war kein Vergnügen.

Verpflegung

Von Gänsbrunnen ging es weiter nach Moutier, wo ich Verpflegung und Wasser einkaufte. Wasser, weil im Jura viele Brunnen abgestellt sind und die Situation danach im Elsass auch nicht viel besser ist. Hinter Moutier war wieder eine Steigung zu bezwingen zum Checkpoint 3 in Souboz. Das Selfie am Ortseingang hatte ich bereits geschossen, als ich es trotzdem wissen wollte: Bekomme ich in diesem verschlafenen Nest einen Stempel? Neben der Tankstelle hielten sich drei Generationen einer Familie auf. Meine auf französisch gestellte Frage nach einem Stempel beantwortete der Älteste in breitem Berndeutsch mit einem Ja. Er sei aber nicht informiert worden, dass es an diesem Tag ein Brevet gäbe. Den Stempel erhielt ich trotzdem.

In der folgenden Abfahrt versuchte ich mich ein wenig zu erholen. Die Gorges du Pichoux ist aber zu steil für richtige Erholung. Richtung Develier war noch eine Baustelle zu überwinden, was auch wieder ein wenig Zeit kostete. Von Develier über Bourrignon ging es anschliessend ins Lützeltal. Im Anstieg nach Develier hatte ich eine ernsthafte Krise. Schwere Beine, null Motivation. Aus Erfahrung weiss ich, dass diese fast auf jedem Brevet irgendwann kommt. Also kurz angehalten, gegessen und mit Zuhause telefoniert. Danach sah alles wieder viel besser aus.

Gruppe

Aus dem Lützeltal heraus war der Blochmont zu überwinden und über die Forêt de la Hardt ging es nach Fessenheim. Auch hier blies wieder ein strammer Gegenwind und langsam setzte die Dämmerung ein. Bei Fessenheim war der Rhein zu queren und anschliessend ging es über den Tankstellenshop an der A5, der als letzter Checkpoint fungierte, zurück ins Ziel. Auf den letzten zehn Kilometern fand ich mich plötzlich in einer Dreigruppe wieder, die sich schön in der Führung ablöste. Für die 302 Kilometer brauchte ich 14 Stunden und 57 Minuten. Ich machte eine Stunde und 19 Minute Pause. Der Test gelang.

Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch 1
Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch 2
Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch 3
Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch 4
Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch 5
Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch 6
Going the distance: ein 300 Kilometer langer Versuch 7

Chat

OBST&GEMÜSE jam GmbH